Als ihre Lippen meine treffen, verschwimmt der Abend.
Die Bar in Schöneberg, in der wir jetzt sitzen, ist zum Bersten voll mit einem undefinierbarem Pulk aus jungen Menschen und aus dem Lautsprecher direkt über unseren Köpfen mit den zitternden Mündern, dringt Musik so nah zu uns hinunter, dass ich jedes Atmen des Sängers hören kann und alles scheint perfekt und ich falle in sie hinein. Ich höre nichts, nur entfernt über mir singt Marvin Gaye „Let’s get it on“ doch ich denke mir nichts dabei.
Während ich sie küsse schließe ich meine Augen und Tränen versuchen zwischen den gepressten Lidern hindurchzuschlüpfen, als sie meinen Kopf in ihre Hände nimmt und ihre Lippen fester noch auf meine presst, so fest, dass es fast wehtut, Ihre Lippen sind weicher als alles Weiche dieser Welt und ich atme sie ein, ziehe literweise ihren Geruch in mich hinein, damit ihre Luft in mein Blut übergeht, bevor ich sie wieder ausatmen muss und mein Kopf wird rot, ich küsse sie und atme nicht aus, ziehe sie immer mehr in mich hinein, atme sie komplett ein, mit Haut und Haaren atme ich sie ein, bis ich fast ohnmächtig werde atme ich sie ein und ihre Hände auf meinen Wangen ist die unfassbarste Berührung und mir wird auf einmal so kalt, auf einmal so heiß und ich bekomme Angst vor dem Ende ihres Kusses, bekomme Angst unter ihren Händen, so dass ich schnell ihre Hüften an mich heranziehe, und schließlich, endlich verschmelzen wir beide, in der Bar in Schöneberg, zu einer Person und es ist unerträglich schön sie zu küssen und ich habe wohl nie geküsst, denke ich noch, als mein Körper das Beben ihres Körpers spürt und ich stolpere weiter in sie hinein, wie ein betrunkener, halbstarker Junge und ich küsse sie gegen ihren Willen, überkommt es mich plötzlich, ich küsse gegen ihren Freund aus Paris, und der Kuss wird in mir zum Kampf gegen ihn, gegen Paris, gegen ganz Frankreich küsse ich und mein Herz verkrampft sich zu einem nussgroßen Klumpen Fleisch, während ich den Himmel in ihr berühreund küsse, als ob es um mein Leben geht. Ich presse weiter meine Lippen auf ihre und höre sie Seufzen unter meinem Kuss und dieses Seufzen ist das schönste Geräusch, dass ich je gehört habe, die Konzentration aller schönen Geräusche ist es und ich zittere und es ist doch nur ein Kuss, denke ich und mein ganzer Körper, meine Seele, meine ganzes Leben, dringt in diesem Moment in sie ein und es wird immer schlimmer, immer unerträglicher, so unbeschreiblich und unfassbar schön fühlt sie sich an und ich denke an Paris und Ihren Freund und ich will das alles gar nicht wissen und ich verfluche Paris und mich und sie und den Moment und diese Stadt und ich verfluche mein Leben und schreie nach meinem Glück, wo zum Teufel ist mein Glück geblieben…und dann spüre ich wieder ihre Lippen und ihren Körper und alles könnte das pure Glück sein, denke ich und ich lasse mich weiter in sie hineinfallen, ich bin erregter als ich es jemals war und ich kann das alles nicht fassen…und während des intimsten Moments dieses intimsten Kusses, öffnen wir unsere Augen und schauen uns an, nur Millimeter von einander entfernt und als ich sie so sehe, sehe ich mich, sehe meinen Schmerz, sehe mein Glück, sehe meine Verzweiflung, meine Suche, mein Lachen, meine Ängste, meine Seele und sie ist ich jetzt, ist mir so ähnlich in ihrer Angst, ihrer Verzweiflung, in ihrem Glück, in diesem intimen Moment, ihre Seele gleicht meiner und niemals zuvor habe ich einen Menschen mehr gekannt, als ich sie in diesem Moment kenne und ich schließe erschrocken wieder meine Augen und will sie loslassen, doch es gelingt mir nicht, ich drücke ihren Körper nur noch fester an meinen und das Atmen des Sängers ist nun ohrenbetäubend laut über uns, laut fast wie mein Herz, und ihre Beine zittern und auch sie verschlingt mich jetzt endlich und ich küsse sie immer weiter, immer fester, immer gefährlicher und ich weiß, dass ihre Zunge in meinem Mund wie ein Messer durch mein Herz fährt, bis es nur noch verstümmelt zuckt, doch ich kann nichts dagegen tun, ich will nichts dagegen tun und ich falle immer tiefer in sie hinein, bis ich an ihrem tiefsten Grund angekommen bin, aus dem ich mich nicht mehr befreien will.
Schließlich lösen sich unsere Lippen.
Ich stütze mich mit einer Hand auf den Tisch neben uns, weil sich immer noch alles dreht und ich sehe ihre feuchten Augen jetzt und drehe meinen Kopf zur Seite und höre sie entfernt flüstern über ihren Freund in Paris und spüre, wie sie fast unsichtbar ihren schönen Kopf schüttelt. Und ich weine fast, ebenso unsichtbar, und verzweifle, im Innersten ihrer Seele verzweifle ich und bin dort gefangen, denke ich und lächle, denn es gibt keinen besseren Ort für mich an dem ich jetzt sein will, als hier, in ihr. Und wir lehnen uns zurück, lassen voneinander ab, ich reibe mein Gesicht, dass noch taub ist von ihren Berührungen, ich atme schwer und weiß nicht, was passiert ist, ich kann nicht sprechen und bin immer noch nervös, nervöser als ich je war und will mich ohrfeigen, doch ich weiß nicht, wofür, und ich greife meinen Gin-Tonic und leere ihn und schaue sie an, schaue mich an und sage zu ihr und zu mir, aus ihr heraus sage ich: Lass uns zahlen.
Und ich stolpere mit ihr in den frühen Aprilmorgen, auf die regennasse Strasse in Schöneberg und der nächste Tag wird grau, denke ich, jetzt schon ist der Himmel hässlich und ich lächle ein letztes Mal, in den grauen Himmel.
(Aus: "Wann ist Schluss?" von R. Weber)
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